Nacktbaden in Deutschland
Spricht man heute von Freikörperkultur, denkt man an große Seebadestrände. Doch was jahrzehntelang die Gemüter erregte, zu gegenseitigen Beleidigungen und zu Gerichtsverfahren führte, eine Welle von Vereinsgründungen und eine wahre Flut von Kampfschriften hervorrief, nahm seinen Anfang im Binnenland, in abgelegenen Gebirgstälern und einsamen Wäldern. Im Jahre 1888 begann der Maler Karl Wilhelm Diefenbach in Bayern Vegetarismus und natürliche Lebensweise zu predigen. Seine Kinder ließ er nackt auf der Alm herumtollen. Trotz aller Anfeindungen malte sein Schüler Fidus den nackten Menschen und setzte sich für Diefenbachs Ideen ein. Um die gleiche Zeit genossen in aller Heimlichkeit einzelne Personen in der Nähe Berlins unbekleidet Luft und Sonne. Später badeten hier und da kleine Gruppen nackt in Flüssen und Seen. An der Ost- und Nordseeküste taten einzelne mutige Damen und Herren erst um 1900 splitternackt den Schritt ins Wasser. Sie waren wohl weniger von Diefenbach und Fidus als von dem in Schweden allgemein üblichen Nacktbaden beeinflußt. Deshalb bezeichnete man die neue, von der überwiegenden Mehrheit der Badegäste als zutiefst unmoralisch angesehene Art zu baden auch als "schwedisch baden".
Zu den Pionieren der Freikörperkultur (ein Begriff, der übrigens erst in den zwanziger Jahren geprägt wurde) gehörte Richard Ungewitter. Seine im Jahre 1905 geschriebene Broschüre "Wieder nacktgewordene Menschen" erlebte in wenigen Jahren eine Gesamtauflage von fast 100.000 Exemplaren. Ungewitter begann auch mit Erfolg die Anhänger der Freikörperkultur zu organisieren. Dem von ihm geschaffenen "Treubund für aufsteigendes Leben" gehörten im Jahre 1913 immerhin mehr als 50 Verbände in Deutschland, Österreich und der Schweiz an. Vor dem ersten Weltkrieg bestanden für die Anhänger der Freikörperkultur bereits die mehr als fünf Hektar große Anlage Klingberg bei Lübeck, ein ähnliches Gelände am Donauufer in Wien und eine Siedlung für Freunde des gemeinsamen Nacktbadens in der Nähe des Schweizer Kurortes Ascona.
Die große Zeit der FKK-Organisationen brach in den zwanziger Jahren an. Die Anhänger des Nacktbadens erreichten schließlich, daß ihnen in Berlin, Wien und anderen großen Städten zu bestimmten Stunden die Hallenbäder offenstanden. Ebenfalls in den zwanziger Jahren entstanden die ersten inoffiziellen Nacktbadeplätze an der Nord- und Ostsee, natürlich nicht am Strand der großen Seebäder, sondern an der Nordküste der Insel Sylt, auf Hiddensee, wo man die "Hucke" wegen der Nacktbader auch "Affenfelsen" nannte. Der Ruhm, den ersten offiziellen FKK-Strand besessen zu haben, gebührt dem kleinen Nordseebad St. Peter-Ording. Dort gab man im Jahre 1932 einen Strandabschnitt zum Nacktbaden frei. Auch anderswo zollten Kurverwaltungen der neuen Bewegung Tribut. Schon vor dem Ersten Weltkrieg bemühten sich konservative Vereine und Badedirektionen, den zaghaften FKK - Bestrebungen einen Riegel vorzuschieben. Es schien, als hätten sich "sittenstrenge" und prüde Gruppen aller Schattierungen verschworen, nicht nur das Nacktbaden zu verbieten, sondern auch das Ganztrikot als einzig erlaubte Badebekleidung zu verteidigen. Bis etwa 1905 war in den meisten Familienbädern der bis oben geschlossene Badeanzug auch für Herren Vorschrift. In Ulm verbot die Polizei im Jahre 1914 das Nacktgehen im Luft- und Sonnenbad; außerdem durfte ein derartiges Bad nicht länger als zwei Stunden benutzt werden. Auch in Berlin versuchten einige Vereine im Jahre 1912 die Regierung zum Vorgehen gegen die Familienbäder zu bewegen. Doch der damalige Regierungspräsident von der Schulenburg ließ sich davon nicht beeinflussen. Er erwiderte auf die entsprechende Eingabe: "Die Erfahrungen der letzten Jahre haben nicht den Beweis erbracht, daß die vorgebrachten Bedenken gegen Familienbäder gerechtfertigt sind. Daß hin und wieder in Ausnahmefallen Unannehmlichkeiten und Ausschreitungen vorgekommen sind, wird nicht bestritten; doch ist die große Zahl der Badebesucher daran schuld. Zu dem Verbote des Zutritts Jugendlicher habe ich mich nicht entschließen können, denn ich kann grundsätzlich nicht zugeben, daß durch das Familienbad die allgemeine Sittlichkeit gefährdet ist."
Während also am Berliner Wannsee wenigstens das gemeinsame Baden geduldet wurde, gingen in Sachsen die Amtshauptmannschaften gegen die Familienbäder vor. Sie durften nur noch an abgelegenen Plätzen errichtet werden. Als Voraussetzung galten hohe Umzäunungen und undurchsichtige Badebekleidung. Verboten war nicht nur die Badehose, sondern auch das Fotografieren. Auch die katholischen Bischöfe wandten sich gegen "wildes und gemischtes Baden" wie Prälat Joseph Mausbach in seiner um 1930 mehrfach aufgelegten Schrift "Sittlichkeit und Badewesen" formulierte. Er verwies darin auf die aus dem Jahre 1925 stammenden "Leitsätze und Weisungen" der deutschen Bischöfe und schrieb: "Die Bischöfe verlangen daher mit Recht für die öffentlichen Fluß- und Seebäder, einschließlich der Licht- und Luftbäder, die Trennung der Geschlechter, sowie getrennte Aus- und Ankleideräume, sodann eine anständige Badebekleidung und eine wirksame Aufsicht zur Verhütung der ebengenannten schweren Anstößigkeiten." Ende der zwanziger Jahre verschärften sich die Auseinandersetzungen um das Nacktbaden. Schließlich erließ im August des Jahres 1932 der Reichkommissar für Preußen, Franz Bracht, eine Anweisung an die Polizei, "an unseren Strömen und Seen gegen Ärgernis erregendes Benehmen einzuschreiten". Im Oktober 1932 folgte dann der vielbelachte und in satierischen Zeitschriften verspottete "Zwickel - Erlaß". Dieses wohl bekannteste Zeugnis prüder Gesinnung hieß: "Badepolizeiverordnung"
Hier die einzelnen Paragraphen im Wortlaut :
§ l Das öffentliche Nacktbaden oder Baden in anstößiger Bekleidung ist verboten.
§ 2 Im und am Wasser ist jedes Verhalten zu unterlassen, das in sittlicher Beziehung Ärgernis zu geben geeignet ist.
§ 3 Es ist verboten, nur mit dem Badeanzug bekleidet, öffentliche Gaststätten zu betreten oder sich in diesen aufzuhalten, es sei denn, daß diese Gaststätten nur vom Badestrand oder den Badeeinrichtungen zugänglich sind.
§ 4 Die nachgeordneten Polizeibehörden können weitergehende Bestimmungen erlassen.
§ 5 Gegen die Nichtbefolgung der Polizeiverordnung wird hiermit eine Festsetzung von Zwangsgeld bis zu 150 RM angedroht.
§ 6 Diese Polizeiverordnung tritt am Tage nach ihrer Veröffentlichung in Kraft.
dazu gab es dann auch noch eine Ergänzung :
betr. Ergänzung der Badepolizeiverordnung vom 18.8.1932
§ l Der § l der Badepolizeiverordnung vom 18.8.1932 erhält folgende Fassung:
Das öffentliche Nacktbaden ist untersagt. Frauen dürfen nur dann öffentlich baden, falls sie einen Badeanzug tragen, der Brust und Leib an der Vorderseite des Oberkörpers vollständig bedeckt, unter den Armen fest anliegt sowie mit angeschnittenen Beinen und einem Zwickel versehen ist. Der Rückenausschnitt des Badeanzuges darf nicht über das untere Ende der Schulterblätter hinausgehen.
Männer dürfen öffentlich baden, falls sie wenigstens eine Badehose tragen, die mit angeschnittenen Beinen und einem Zwickel versehen ist. In sogenannten Familienbädern haben Männer einen Badeanzug zu tragen.
Die vorstehenden Vorschriften gelten nicht für das Baden in Badeanstalten, in denen Männer und Frauen getrennt baden.
Die Vorschriften des Abs. 2 gelten entsprechend für den Strandanzug der Frauen
§ 2 Diese Pol. - Verordnung tritt mit dem 1.11.1932 in Kraft.
Damit war das Ende der wohl stürmischsten Etappe der deutschen FKK-Bewegung gekommen. In der Schweiz dagegen gründete man im Jahre 1937 in Thielle am Nordende des Neuenburger Sees ein großes sogenanntes Lichtgelände mit einem ausgedehnten Nacktbadestrand und in Großbritannien schlössen sich Anhänger der Freikörperkultur im Kriegsjahr 1943 zu einer Vereinigung zusammen. In den fünziger Jahren kam es dann in den meisten Nord- und Ostseebädern zur Freigabe gekennzeichneter Strandabschnitte für Freunde des Nacktbadens, und es scheint, als sei zumindest auf diesem Gebiet das Seebadewesen wieder am Anfang seiner Geschichte angelangt, die schließlich vor mehr als 200 Jahren mit dem Nacktbaden begonnen hat.